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„Auf zu neuen Ufern!“ – Lassen Sie nicht den „Segelschiff-Effekt“ Ihren Kurs bestimmen

Lese­zeit: 11 Minu­ten
„Auf zu neuen Ufern!“ – Lassen Sie nicht den „Segelschiff-Effekt“ Ihren Kurs bestimmen

Seit der Erfin­dung der ers­ten Werk­zeu­ge und der Ent­de­ckung des Feu­ers haben die Men­schen suk­zes­si­ve die Metho­den und Tech­no­lo­gien ver­bes­sert, mit denen sie ihre Bedürf­nis­se befrie­digt haben. Spä­tes­tens seit der 1. indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on sind Trans­for­ma­tio­nen durch eine sich selbst ver­stär­ken­de Dyna­mik in stei­gen­der Geschwin­dig­keit gesche­hen: Schon weni­ge Jah­re nach der Erfin­dung der Dampf­ma­schi­ne war Eng­land von meh­re­ren tau­send Kilo­me­tern Schie­nen­netz erschlossen!

„Volle Kraft voraus!“, oder nicht?

Nahe­lie­gend wäre also gewe­sen, wenn sich der Sie­ges­zug der Dampf­ma­schi­ne naht­los auf dem Was­ser fort­ge­setzt hät­te. Doch als die ers­ten Dampf­schif­fe auf­ka­men, pas­sier­te in den gro­ßen inter­kon­ti­nen­ta­len Han­dels­flot­ten etwas Über­ra­schen­des: Kaum etwas. Statt die neue Tech­no­lo­gie zu adap­tie­ren, inves­tier­ten Ree­der und Werf­ten wie­der stär­ker in die domi­nie­ren­de Tech­no­lo­gie der Segel­schif­fe. Dadurch konn­ten letz­te Effi­zi­enz­re­ser­ven her­aus­ge­holt wer­den, die den bestehen­den Markt­vor­sprung der Groß­seg­ler gegen­über der ja noch nicht gereif­ten geschwei­ge denn opti­mier­ten neu­en Tech­no­lo­gie zunächst ausbauten.

Die Fol­ge: Erst über 100 Jah­re spä­ter(!) hat­ten die Dampf­schif­fe die Segel­schif­fe abge­löst. Vie­le Unter­neh­men, die sich der neu­en Tech­nik zu lan­ge ver­wei­gert hat­ten, muss­ten am Ende Kon­kurs anmel­den, weil sie den Know-How-Rück­stand auf dem neu­en Markt nicht mehr auf­ho­len konnten.

Wie ist die­ses asym­me­tri­sche Ver­hal­ten zu erklä­ren? Eigent­lich ganz ein­fach: Die Dampf­ma­schi­ne ersetz­te kör­per­li­che Arbeit durch Maschi­nen­kraft, die Eisen­bahn mach­te müh­se­li­ge tage­lan­ge Kutsch­fahr­ten über­flüs­sig. Bei­de boten also erkenn­bar rie­si­ge Vor­tei­le, was zu einer zügi­gen Ein­füh­rung führ­te. Der Bedarf, Men­schen und Waren über Mee­re zu trans­por­tie­ren, war hin­ge­gen durch die Segel­schif­fe bereits seit lan­gem zufrie­den­stel­lend gedeckt. Die Dampf­schiff­fahrt war also nur eine soge­nann­te Substitutions(Ersatz-)technologie, der eher mit Skep­sis begeg­net wur­de. Natür­lich ver­sprach sie rela­ti­ve Vor­tei­le (Wind­un­ab­hän­gig­keit, weni­ger Mann­schafts­be­darf, mehr Kapa­zi­tät), aber die­sen stan­den Auf­wän­de und Risi­ken gegen­über, die mit der Ablö­sung einer bewähr­ten Lösung durch eine kom­plett neue Tech­no­lo­gie immer ver­bun­den sind.

Unnö­ti­ge Risi­ken und Auf­wän­de zu ver­mei­den gehört aber genau­so zum Den­ken und Han­deln guter Unter­neh­mer wie ange­mes­sen Inno­va­ti­on zu för­dern – das macht es nach­voll­zieh­bar, dass vie­le erst ein­mal abwar­ten woll­ten, wie sich das mit den Dampf­schif­fen ent­wi­ckelt. Die Sor­ge, ohne Aus­sicht auf einen ROI bestehen­de Geschäfts­pro­zes­se zu gefähr­den, hat den Leit­spruch „Never touch a run­ning sys­tem“ geprägt. Aber die­ses Den­ken kann schnell gefähr­lich wer­den. Denn zu lan­ges Aus­sit­zen von Inves­ti­tio­nen in Inno­va­tio­nen kann sehr schnell einen unein­hol­ba­ren Rück­stand bedeu­ten, den man tücki­scher­wei­se erst bemerkt, wenn es zu spät ist.

Mer­ke: Ein tech­no­lo­gi­scher Vor­sprung kann sich unver­se­hens in eine ris­kan­te Abhän­gig­keit ver­wan­deln – gra­de wenn man ihn zu lan­ge erhal­ten woll­te. Das geht nicht nur Werf­ten und Ree­de­rei­en so, son­dern ist viel­mehr all­ge­mein­gül­tig. Bei­spiel: Vie­le gro­ße Unter­neh­men mit daten­las­ti­gen Geschäfts­pro­zes­sen , die schon früh auf Daten­ver­ar­bei­tung gesetzt hat­ten (z.B. Ban­ken, Ver­si­che­run­gen, Ver­sand­händ­ler), nicht recht­zei­tig für Sub­sti­tu­ti­ons­lö­sun­gen ihrer frü­hen DV-Sys­te­me sorg­ten. Bis heu­te sind vie­le Unter­neh­men in Ihren Kern­pro­zes­sen von star­ren, viel zu teu­ren auf Groß­rech­nern (die berühm­te „Host“-„Legacy“) basie­ren­den Sys­te­men aus den 1960er und 70er Jah­ren hocken, die man spä­tes­tens in den 1990ern hät­te ablö­sen müs­sen und die man nun nicht mehr los­wird (ja, man fin­det kaum noch Exper­ten, die die Sys­te­me am Lau­fen hal­ten). Wie bei den Segel­schif­fen ist die ver­meint­li­che Sicher­heit zur teu­ren und risi­ko­be­haf­te­ten Hypo­thek fürs Unter­neh­men und wegen der feh­len­den Fle­xi­bi­li­tät zum Wett­be­werbs­nach­teil gewor­den. Übri­gens: Mit den Java-Lösun­gen der Jahr­tau­send­wen­de wird die­ser Manage­ment­feh­ler in vie­len Unter­neh­men gera­de wiederholt.

Was können wir aus dem „Segelschiff-Effekt“ lernen?

Mit die­sem Abwehr- oder Ver­zö­ge­rungs­ef­fekt ist bei jeder Sub­sti­tu­ti­ons­tech­no­lo­gie zu rech­nen. Er wur­de des­halb nach dem beson­ders dras­ti­schen his­to­ri­schen Prä­ze­denz­fall „Segel­schiff-Effekt“ getauft.
Fol­gen­de Leh­ren las­sen sich dar­aus ziehen:

  • Ein markt­kon­ser­va­ti­ves Ver­hal­ten kann sich kurz- bis mit­tel­fris­tig aus­zah­len. Wer getreu dem Mot­to „Schus­ter, bleib bei Dei­nen Leis­ten!“ auf sei­ne Stär­ken (Pro­duk­te, Know-How, Pro­zes­se) setzt und die­se wei­ter opti­miert statt jedem Tech­no­lo­gie­trend sofort hin­ter­her zu lau­fen, kann sei­ne Markt­stel­lung vor­über­ge­hend womög­lich sogar aus­bau­en, weil ande­re viel­leicht zu schnell aufs fal­sche oder noch nicht aus­rei­chend schnel­le Pferd gesetzt haben
  • Eine sinn­vol­le (d.h. in der Regel Effi­zi­enz stei­gern­de) tech­no­lo­gi­sche oder kul­tu­rel­le Evo­lu­ti­on lässt sich so viel­leicht ver­zö­gern, wenn Groß­tei­le einer Bran­che so den­ken. Aber sie lässt sich nicht end­gül­tig auf­hal­ten – zumin­dest wenn es einen halb­wegs frei­en Markt gibt. Es hat frei­lich auch Fäl­le gege­ben, in denen Inter­es­sen­grup­pen ihnen nicht geneh­me Tech­no­lo­gien kom­plett ver­hin­dern konn­ten. Sol­che Blo­cka­den durch Mono- oder Oli­go­po­le zu unter­bin­den und Rah­men für Wei­ter­ent­wick­lung (auch der Volks­wirt­schaft als Gan­zes) zu schaf­fen ist Auf­ga­be von Ord­nungs­po­li­tik und Regulierungsbehörden
  • Wer sich einer sich schließ­lich am Markt durch­set­zen­den neu­en Ent­wick­lung zulan­ge ver­wei­gert hat, hat anschlie­ßend erheb­li­che Wett­be­werbs­pro­ble­me, weil er den Rück­stand nicht mehr auf­ho­len kann. Vie­le Unter­neh­men bezah­len einen sol­chen Rück­stand mit dem Kon­kurs oder dem Ver­lust gan­zer Geschäfts­fel­der. Das trifft oft ehe­ma­li­ge Vor­rei­ter der Bran­chen (unten fol­gen eini­ge Beispiele)

Die Par­al­le­len zur bio­lo­gi­schen Evo­lu­ti­on drän­gen sich auf: Kei­ne Art könn­te bestehen, wenn sie stän­dig ihr gene­ti­sches Mate­ri­al völ­lig über den Hau­fen wirft. Eben­so sind aber ten­den­zi­ell die Arten vom Aus­ster­ben bedroht, die sich zu lang­sam an Ver­än­de­run­gen anpas­sen. Unter­neh­men müs­sen danach stre­ben, bei Auf­recht­erhal­tung des Kern­ge­schäfts Inno­va­tio­nen zu beob­ach­ten und ggf. so weit umzu­set­zen, dass sie mit­tel­fris­tig das Kern­ge­schäft (mit)tragen können.

Keiner ist gegen das Aussterben gefeit

Märk­te sind genau­so emo­ti­ons­los wie natür­li­che Öko­sys­te­me. Und Stär­ke ist anders als bei der Revier­ver­tei­di­gung bei Ver­än­de­run­gen nicht immer nur ein Vor­teil. Jetzt da ich das schrei­be, fällt mir auf, dass der genia­le Spruch des vom Faul­tier generv­ten Säbel­zahn­ti­gers in Ice Age der Hal­tung in man­chen gro­ßen Unter­neh­men gegen­über Start-Ups ähnelt: „Du stehst ent­schie­den zu weit am Anfang der Nah­rungs­ket­te, um hier so das Maul auf­zu­rei­ßen!“. Gera­de in unse­rer Zeit sind es oft Start­ups und klei­ne­re Unter­neh­men, die den gro­ßen Kon­zer­nen vor­le­ben, wie man sich mit Agi­li­tät neue Märk­te erschließt, die nicht sel­ten zum Weg­bre­chen bestehen­der Märk­te führen.
So wie die ver­meint­lich über­mäch­ti­gen Dino­sau­ri­er durch einen welt­wei­ten Kli­ma­wan­del aus­ge­stor­ben sind, weil sie nicht anpas­sungs­fä­hig genug waren, sind es oft gera­de die Markt­füh­rer, die einem Markt­wan­del nicht schnell genug fol­gen. Eini­ge Beispiele:

  • Der Com­pu­ter-Rie­se IBM hat­te ein Nah­tod-Erleb­nis, weil er den Wan­del des Daten­ver­ar­bei­tungs­mark­tes durch die PC-Revo­lu­ti­on unter­schätzt hat­te. Iro­ni­scher­wei­se hat­te IBM selbst die­ser erst zum Durch­bruch ver­hol­fen, als man – qua­si als Beob­ach­tung des bis dahin wir­ren Mark­tes – auch mal Per­so­nal Com­pu­ter gebaut hat. Die­se wur­den aber sofort zum Qua­si-Stan­dard und schu­fen dadurch den PC-Markt erst: die ers­ten Clo­ne war­ben noch mit „IBM-com­pa­ti­ble“, das Ori­gi­nal war ver­gleichs­wei­se zu teu­er. IBM konn­te sich gera­de noch ret­ten, indem es sich vom Hard­ware­an­bie­ter zum Bera­tungs- und Dienst­leis­tungs­haus transformierte
  • Der Mobil­te­le­fon-Rie­se Nokia hat die Smart­phone-Revo­lu­ti­on ver­schla­fen, wäh­rend vie­le Mit­be­wer­ber ihre Gerä­te mit Android aus­stat­te­ten und somit einen Wett­be­werb zu App­les iPho­ne auf­recht erhiel­ten. Die spä­te­re glück­lo­se Alli­anz der Fin­nen mit Micro­soft, den ande­ren Lang­schlä­fern in die­sem Bereich, hat dann noch gezeigt, dass ein Inno­va­ti­ons­markt ver­lo­ren ist, wenn man der Ver­tei­lung zu lan­ge zuge­se­hen hat. Da hel­fen dann auch gro­ße Mar­ken­na­men nicht mehr
  • Der Foto-Rie­se Kod­ak hat den Trend zur Digi­tal­fo­to­gra­fie selbst dann nicht nach­voll­zo­gen (oder nicht mehr nach­voll­zie­hen kön­nen), als er bereits diver­se Ana­log­film-Fabri­ken und –Labo­re schlie­ßen muss­te. Schließ­lich muss­te er nach 131 Jah­ren Unter­neh­mens­ge­schich­te Kon­kurs anmel­den. Ein buch­stäb­lich film­rei­fer Unter­gang. Bit­te­res Detail die­ser Geschich­te: Die ers­te Digi­tal­ka­me­ra der Welt wur­de 1975 von einem Kod­ak-Mit­ar­bei­ter ent­wi­ckelt. Aber bekannt­lich gilt ja der Pro­phet oft im eige­nen Lan­de nichts

Um im Schiff­fahrts-Bild zu blei­ben: Gro­ße Unter­neh­men glei­chen oft Super­tan­kern oder ‑con­tai­ner­schif­fen, die eine Kurs­än­de­rung 5 km vor­her ein­lei­ten müs­sen. Oft haben Kon­zer­ne oder ihre Spar­ten das Pro­blem, um bestimm­te Pro­dukt­ka­te­go­rien her­um gewach­sen zu sein. Dabei sind die­se in ihre DNA (Unter­neh­mens­kul­tur und –orga­ni­sa­ti­on) über­ge­gan­gen und ver­hin­dern zu dis­rup­ti­ve Ver­än­de­run­gen.

„Disruption voraus!“

Der Wech­sel vom Segel­schiff zum Dampf­schiff war ja eigent­lich nur eine rela­tiv klei­ne Ver­än­de­rung. Im Prin­zip wur­de bei einer im Wesent­li­chen ähn­li­chen Art von Fahr­zeug nur ein Antrieb (Wind) durch einen ande­ren ersetzt (Dampf­ma­schi­nen). Das ist also durch­aus ver­gleich­bar der Her­aus­for­de­rung, von Ver­bren­ner- auf Ele­kro­au­tos zu wech­seln. Falls jemand ein­wen­den möch­te, dass die­se aber ja auch durch feh­len­de Lade-Infra­struk­tur auf­ge­hal­ten wer­de: Stimmt, aber für die Dampf­schif­fe muss­te auch in den Häfen Koh­le bereit­ge­stellt wer­den. Hier ist wie­der­um (im Inter­es­se der Wei­ter­ent­wick­lung der Volks­wirt­schaft) die Ord­nungs­po­li­tik gefragt, für Rah­men­be­din­gun­gen, Infra­struk­tur und/oder Anrei­ze zu sor­gen. Wie schnell die Ent­wick­lung von Elek­tro­mo­bi­li­tät gehen könn­te, hat man ja an der Reak­ti­on der deut­schen Auto­bau­er auf Chi­nas Ankün­di­gung gese­hen, in nähe­rer Zukunft nur noch Elek­tro­au­tos zuzulassen.

Das Weg­bre­chen des Mark­tes für eine gan­ze Pro­dukt­ka­te­go­rie nennt man Dis­rup­ti­on (lt. dis­rum­pe­re, zer­bre­chen). Dis­rup­ti­ve Lösun­gen sind sol­che, die den Markt ande­rer Lösun­gen bzw. deren Nach­fra­ge buch­stäb­lich zer­bre­chen, weil man plötz­lich ganz ande­re Lösungs­mög­lich­kei­ten hat. Ich hat­te anhand des Segel­schiff-Effekts dar­ge­legt, dass bei einer klas­si­schen Sub­sti­tu­ti­ons­tech­no­lo­gie, die nur einen ver­hält­nis­mä­ßig gerin­gen Nut­zen­vor­teil hat, eine sehr gedehn­te Dis­rup­ti­on erwar­ten kann. Wir erle­ben das bei der Ein­füh­rung der Elek­tro­mo­bi­li­tät (die ja noch dazu mit eige­nen Nach­tei­len wie gerin­ger Reich­wei­te zu kämp­fen hat), aber auch z.B. beim Ersatz von Com­pu­ter­lö­sun­gen durch neuere.

Anders sieht es aus, wenn die neue Tech­no­lo­gie einen zuvor unvor­stell­ba­ren Effi­zi­enz­ge­winn und/oder ganz neu­ar­ti­ge Lösun­gen ermög­licht. Bei­spie­le für sol­che Dis­rup­tio­nen waren in der Mensch­heits­ge­schich­te der Acker­bau, das Geld, der Buch­druck und natür­lich die Dampf­ma­schi­ne. Plötz­lich ent­ste­hen durch die neu­en Mög­lich­kei­ten völ­lig neue Geschäfts­mo­del­le, die in der Regel zulas­ten alter Geschäfts­mo­del­le gehen.

Extrem dis­rup­ti­ve Tech­no­lo­gien unse­rer Zeit sind das Inter­net und beson­ders das Smart­phone, das die­ses von über­all erreich­bar mach­te. Wir haben alle die auf die­ser Basis ein­set­zen­de Dyna­mik und die Inno­va­ti­ons­wel­len der letz­ten 25 Jah­re erlebt. Nichts spricht dafür, dass sich die ste­ti­ge Zunah­me des Ände­rungs­tem­pos ver­lang­samt, zumal mit IoT der nächs­te Schub kommt. Stür­mi­sche Zei­ten für Schiffs­werf­ten.

Echte Disruption ist fast immer auch gesellschaftlicher Wandel

Der Grad einer Dis­rup­ti­on lässt sich auch dar­an ermes­sen, wie sehr sie gesell­schaft­li­che Struk­tu­ren ver­än­dert, also eher eine Revo­lu­ti­on als eine Evo­lu­ti­on ist. Man spricht in sol­chen Fäl­len auch von Para­dig­men­wech­seln. Oft fällt es einem Groß­teil der Gesell­schaft schwer dem Wan­del zu fol­gen, weil das Welt­bild so sehr vom alten Para­dig­ma geprägt ist.

Der wohl größ­te Para­dig­men­wech­sel und gleich­zei­tig die Grund­la­ge unse­rer Zivi­li­sa­ti­on war die land­wirt­schaft­li­che Revo­lu­ti­on vor etwa 10 Tsd. Jah­ren. Die Ein­füh­rung von Acker­bau und Tier­hal­tung mach­te die Mensch­heit – in geschicht­li­chen Dimen­sio­nen qua­si über Nacht – von mehr oder weni­ger sorg­los (von der Angst vor Fress­fein­den abge­se­hen) in den Tag leben­den noma­di­schen Jägern und Samm­lern ohne Eigen­tum und Bal­last zu Sess­haf­ten, also buch­stäb­li­chen Besit­zern. Die­se erkauf­ten ihre ver­meint­li­che Zukunfts­si­cher­heit mit stän­di­gen Sor­gen und har­ter Pla­cke­rei. Vie­le Anthro­po­lo­gen sehen hin­ter die­sem Schritt der Mensch­heit das, was die bibli­sche Schöp­fungs­ge­schich­te als Ver­trei­bung aus dem Para­dies überliefert.

Das Geld befrei­te die Men­schen aus den Ein­schrän­kun­gen des Natu­ra­li­en­tausch­han­dels und ermög­lich­te eine völ­lig neue Han­dels­kul­tur. Der Buch­druck führ­te zu einer völ­lig neu­en Bil­dungs­kul­tur, in wech­sel­sei­ti­ger Dyna­mik mit dem Kampf der Kon­fes­sio­nen, da nach der Luther­bi­bel, die auch über die Ein­füh­rung einer deut­schen Hoch­spra­che als ers­tes nicht nur Reli­gi­on, son­dern auch Bil­dung demo­kra­ti­sier­te, die Katho­li­ken mit einem all­ge­mei­nen Schul­sys­tem kon­ter­ten (pas­send dazu: mein Freund, der Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­ler Micha­el Blu­me, stellt in sei­nem jüngs­ten Buch „Islam in der Kri­se“ die The­se auf, dass das Ver­bot des Dru­ckens ara­bi­scher Schrift der Grund für die bis heu­te anhal­ten­de Sta­gna­ti­on der bis ins 15.Jh. auch für Euro­pa maß­geb­li­chen ara­bi­schen Kul­tur war).

Die Dampf­ma­schi­ne befeu­er­te bekannt­lich die indus­tri­el­le Revo­lu­ti­on, die Land­flucht und in letz­ter Kon­se­quenz die Auf­lö­sung tra­di­tio­nel­ler Fami­li­en­struk­tu­ren und die Ein­füh­rung moder­ner Sozi­al­sys­te­me an ihrer Stelle.

Was aber sind die kul­tu­rel­len Ver­än­de­run­gen der digi­ta­len Revo­lu­ti­on? Nur wenn wir die­se ver­ste­hen, kön­nen wir Lösun­gen für die Zukunft identifizieren.

„Sharing economy“ statt „shareholder value“

Es ist nicht über­ra­schend, dass die Mög­lich­kei­ten des zeit­na­hen welt­wei­ten Aus­tau­schens und Zusam­men­ar­bei­tens eben­falls erheb­li­che kul­tu­rel­le Ände­run­gen mit sich gebracht haben und noch brin­gen. Selbst mei­ne Gene­ra­ti­on kann sich ein Leben ohne Inter­net und Smart­phone kaum noch vor­stel­len, aber die „digi­tal nati­ves“ sind damit bereits sozia­li­siert wor­den. Es hat ihr gan­zes Welt­bild geprägt – und zwar m.E. durch­aus positiv.

Tei­len und mit­tei­len sind nicht nur Phä­no­me­ne von social media, son­dern haben in Wech­sel­wir­kung mit einem gestie­ge­nen Wer­te­be­wusst­sein, dem Wunsch nach nach­hal­ti­gem Umgang mit begrenz­ten Res­sour­cen und den tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten zu dem geführt, was wir all­ge­mein „sha­ring eco­no­my“ nen­nen. Die Open Source-Bewe­gung und Wiki­pe­dia sind leuch­ten­de Bei­spie­le, was eine Kul­tur des Tei­lens errei­chen kann. Ist es nicht gera­de­zu gran­di­os, dass nur 5 Jahr­hun­der­te, nach­dem Guten­berg und Luther den Mäch­ti­gen das Pri­vi­leg der Schrift­spra­che ent­ris­sen haben, hun­dert­tau­sen­de Men­schen auf allen Erd­tei­len das Wis­sen der Mensch­heit in einem Werk zusam­men­tra­gen – ohne Bezah­lung außer der Genug­tu­ung, dass ande­re vom eige­nen Bei­trag pro­fi­tie­ren? Mir macht das Hoff­nung für die Bewäl­ti­gung der Zukunft, sobald die Gene­ra­ti­on der Kal­ten Krie­ger, die ja gra­de in letz­ten auf­ge­reg­ten Zuckun­gen liegt, mal aus­ge­stor­ben ist.

Wäh­rend vom öko­lo­gi­schen impe­tus mei­ner frie­dens­be­weg­ten und Anti-AKW-Gene­ra­ti­on nicht viel übrig blieb („Ja! Wir waren die mit den Jute-Taschen!“ hat Die­ter Nuhr ein­mal gewohnt treff­lich for­mu­liert), nimmt es ein Groß­teil der jün­ge­ren Gene­ra­ti­on ernst mit Res­sour­cen­scho­nung. Wäh­rend sie (mei­ne 2. Toch­ter ist gera­de dabei, mein Jüngs­ter freut sich schon drauf) zwar schon noch Füh­rer­schein machen, ist es für sie bei wei­tem nicht so selbst­ver­ständ­lich, irgend­wann ein eige­nes Auto besit­zen zu wol­len. Wor­auf sie aller­dings nicht ver­zich­ten wol­len, ist sich ihre Welt zu eigen zu machen – mit dem Smart­phone, mit inter­mo­da­ler Mobi­li­tät, Uber, AirBnB und Co., so wir sei­ner­zeit mit dem Inter­rail-Ticket. Recht haben sie.

Transformation ist eine Fertigkeit, kein abgeschlossener Vorgang

Damit sind wir aber wie­der beim The­ma Dis­rup­ti­on ange­langt. Wovon sol­len Indus­trie­un­ter­neh­men leben, wenn Güter weni­ger gekauft und mehr geteilt wer­den? Rich­tig, sie müs­sen neue Geschäfts­mo­del­le ent­wi­ckeln, bevor ande­re das tun Das bedeu­tet für die meis­ten Unter­neh­men aber eine gro­ße Trans­for­ma­ti­on ihrer eige­nen Orga­ni­sa­ti­on und Kul­tur.

Wir leben in einer span­nen­den Zeit. Unse­re Vor­fah­ren haben mit Segel­schif­fen die Welt erobert, wir mit Inter­rail, dem Auto und dem Flug­zeug, unse­re Kin­der und Enkel wer­den das mit ihren Mit­teln machen – viel­leicht wer­den sie ein­mal als die Gene­ra­tio­nen gel­ten, die die Erde geret­tet haben. Wir wis­sen nicht, was die Zukunft bringt. Nur eines ist sicher: Nicht ist so bestän­dig wie die Ver­än­de­rung. Des­we­gen müs­sen moder­ne Unter­neh­men viel schnel­ler als ihre Vor­fah­ren in der Lage sein, sich Ver­än­de­run­gen anzu­pas­sen und die­se pro­ak­tiv mit­zu­ge­stal­ten.

Ich wün­sche Ihnen alles Gute auf Ihrem Weg der Trans­for­ma­ti­on und freue mich über den Gedan­ken­aus­tausch mit Ihnen. Nut­zen Sie ger­ne die Kom­men­tar­funk­ti­on oder spre­chen Sie mich auf ande­ren Kanä­len an.

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