Vom „Faktor Mensch“ und anderen Unwörtern

Dieser Artikel ist nahezu wortgleich zuerst im SQ-Magazin Nr. 19, 2011 erschienen. Mit Ausnahme einiger Links ist er auch sieben Jahre später unverändert gültig. Eigentlich erschreckend…
Wer sich die Hektik des heutigen Berufsalltags anschaut, fühlt sich unweigerlich an Momo und die grauen Herren von der Zeit-Spar-Kasse erinnert [1]. Alles soll, wenn möglich, bis gestern erledigt werden. Damit es noch schneller geht, gibt es hierfür sogar ein Akronym: „ASAP“. (Ihnen sagt der Begriff nichts? Glückwunsch! ASAP steht für „as soon as possible“.) “ASAP“ ist eines meiner persönlichen Unwörter. Schon als klassische Anforderung betrachtet, genügt es wohl kaum den gängigen Qualitätskriterien: nicht messbar (wann ist „as soon“?), nicht eindeutig (was gilt als „possible“?) und in der Regel im Konflikt zu allen anderen Punkten auf der Tagesordnung.
Zeitmangel ist heutzutage chronisch geworden. Die gleiche Menge Arbeit wird auf immer weniger Schultern verteilt. Hinzu kommt, dass zunehmend mehr Spezialisten gefragt sind, die sich dann zwischen unterschiedlichen Projekten aufteilen müssen – und das kostet bekanntlich Zeit. Wir sind in einen Teufelskreis geraten. Ein Manager verbringt so viel Zeit in Statusbesprechungen, dass er (oder sie) das konkrete Projektgeschehen – und damit die Sorgen und Nöten seiner Mitarbeiter – nicht mehr direkt miterlebt. Um dennoch auf dem Laufenden zu sein, werden weitere Statusbesprechungen angesetzt. Als Folge bleibt uns wenig Freiraum, unsere Zeit nach eigenem Gutdünken einzuteilen. Die Fremdbestimmung unserer Arbeit im Allgemeinen und unserer Zeiteinteilung im Besonderen ist zur Regel geworden.
Dies ist meines Erachtens der eigentliche Grund, weshalb agile Prozesse so populär geworden sind! SCRUM verspricht dem Team ein hohes Maß an Eigenverantwortlichkeit. (Ob diese tatsächlich in der Praxis gegeben ist, sei einmal dahin gestellt.) Zwei der vier Thesen des agilen Manifests handeln von Menschen und zwischenmenschlichen Beziehungen, d.h. Kommunikation. In der Regel werden jedoch die beiden anderen eher technischen Aspekte hervorgehoben, als da wären: funktionierende Programme und Flexibilität gegenüber Änderungen. Dies entspricht der Neigung von uns Ingenieuren und Naturwissenschaftlern, die schwer beherrschbare, nicht objektivierbare menschliche Psychologie möglichst weit auszuklammern. Dabei geht es bei Agilität auch und gerade um diese Punkte: Wahrnehmung und Wertschätzung des Einzelnen, Kommunikation und Selbstbestimmung. Durch die verstärkte Kommunikation mit dem Kunden wird für den Entwickler transparent, wofür seine Arbeit gut ist. Das wiederum stärkt die Motivation.
Die Leute sind es leid, als „Ressourcen“ betrachtet zu werden – sozusagen als CPU-Zeit des Supercomputers Erde [2]. Wir reden gerne davon, wie entscheidend der „Faktor Mensch“ den Projekterfolg beeinflusst. Hier wird der Einzelne zur Reibungskonstante oder – im besten Fall – zum Erfolgskoeffizient in der Formel des Projekterfolgs reduziert. So betrachtet erscheint der Satz: „Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Werkzeuge“ wie ein Lichtblick.
Dass agile Prozesse die Motivation fördern, ist seit langem bekannt. Ist damit alles gesagt? Auch über den Umgang mit Mitarbeitern wurde seit Tom de Marco bereits alles Wichtige geschrieben [3]. Die Theorie ist bekannt, die mangelhafte Umsetzung in der Praxis wird jedoch nicht diskutiert. Dabei handelt es sich um das Thema, welches uns alle betrifft. Mitarbeitermotivation ist die oberste Aufgabe einer Führungskraft. Stattdessen wird gerne auf den „selbstmotivierten Mitarbeiter“ verwiesen. Es mag schon sein, dass Motivation nicht von außen erzielt werden kann, sondern von innen kommen muss. Dabei wird jedoch gerne übersehen, wie wenig es braucht, um jemanden zu demotivieren. Wie schon Eugen Roth sagte: „Ein Mensch fühlt oft sich wie verwandelt, sobald man menschlich ihn behandelt!“ [5]
Auch die chronische Zeitnot wirkt sich negativ auf die Motivation aus. Schlimmer noch – die damit einhergehende Überlastung ist einer der Hauptfaktoren für Stress und führt im Extremfall zum Burnout-Syndrom. Laut FAZ gingen 2008 rund 11 Prozent aller Fehltage auf psychische Erkrankungen zurück; fast doppelt soviel wie im Jahr 1990 [4]. Inzwischen rechnen Experten damit, dass etwa 20 Prozent aller Berufstätigen vom Burnout-Syndrom oder anderen psychischen Erkrankungen betroffen sind [6]. Diese Zahlen wachsen sich langsam zu einem wirtschaftlichen Risiko aus und werden damit plötzlich doch zum Thema. Die Einzelschicksale, die bei Kollegen tiefe Betroffenheit auslösen, interessieren jedoch im größeren Zusammenhang kaum. Überspitzt gesagt diskutieren wir darüber, ob wir unsere Legehennen doch besser behandeln müssen, damit sie weiterhin Eier legen. Begriffe wie „Headcount“ und „Bodyleasing“ verdeutlichen die Anonymisierung in extremer Weise. Besonders anschaulich wird die Distanz bei Ausdrücken wie „Offshoring“ und „Outsourcing“. Jede Burg hat im innersten Hof einen Brunnen – wir aber lagern unsere Quelle an andere Ufer aus.
In Michael Endes Geschichte rettet Momo die Menschheit, indem sie die gesparte Zeit wieder freisetzt [1]. Das war jedoch, bevor Kreditinstitute anfingen, hochriskante Spekulationen mit den Einlagen ihrer Kunden zu betreiben. Leider fürchte ich, dass es keinen äonenschweren Rettungsschirm für Zeitsparkassen geben wird. Uns bleibt nur eine Lösung: wir müssen bewusster mit unserer Zeit umgehen. Wir haben es selbst in der Hand. Wie oft sagen wir: „Ich habe keine Zeit“, z.B. um abends zum Sport zu gehen? Bis zu dem Tag, an dem uns der Bandscheibenvorfall ereilt. Danach sehen wir die Dinge anders. Auf einmal ist die Krankengymnastik der wichtigste Termin im Kalender.
Es ist also alles eine Frage der Prioritäten. Zeit hat man nicht, Zeit nimmt man sich! Wir brauchen flexible Lösungen für den Einzelnen. Je nach Person können diese ganz unterschiedlich aussehen (z.B. Teilzeit für junge Väter oder die Möglichkeit, eigene Arbeitsergebnisse selbst auf einer Tagung zu präsentieren).
Um Missverständnissen vorzubeugen: ich hatte weder einen Bandscheibenvorfall, noch leide ich am Burnout-Syndrom. Die Welt ist auch nicht schwarz-weiß, sondern bunt und wie bei der norwegischen Küste umso vielfältiger, je genauer man hinschaut. Mir geht es lediglich darum zu zeigen, wie sich die Terminologie von Börsenanalysten in unseren täglichen Sprachgebrauch einzuschleichen droht. Hüten wir uns davor, die damit verbundene Denkweise zu übernehmen!
P.S.: Falls Sie Momo nicht kennen, nehmen Sie sich die Zeit und lesen es. Für alle anderen gibt es auf Wikipedia eine kurze, zeitsparende Zusammenfassung.
[1] Michael Ende, “Momo”, K. Thienemanns Verlag Stuttgart, 1973[2] Douglas Adams, “The Hitch Hiker’s Guide to the Galaxy”, 1984[3] Tom de Marco, und Timothy Lister, „Wien wartet auf Dich”, Carl Hanser Verlag München Wien, 1999[4] FAZ.NET, „Burn-Out statt Grippe“, 29.03.2010
[5] Eugen Roth, „Von Mensch zu Mensch“, Deutscher Bücherbund, Rechte bei Carl Hanser Verlag, München, Franz Ehrenwirth Verlag KG, München und Eugen Roth[6] Münchener Institut für Lösungsorientiertes Denken, „Daten & Fakten Folgen für Unternehmen“, zuletzt aufgerufen am 05.06.2018